Neumodischer Kram oder doch ein alter Hut?
Unglaublich oft wird man mit der Aussage „das haben die Pferde doch früher auch nicht gebraucht“ oder „ihr erfindet auch immer wieder was Neues…“ konfrontiert.
Beschäftigt man sich jedoch ein wenig genauer mit der Zahnbehandlung beim Pferd, findet man Erstaunliches: Bereits Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte der Tierarzt Dr. Erwin Becker in einer Tierarztpraxis in Sarstedt, Methoden und Werkzeuge zur Zahnbehandlung beim Pferd, die den heutigen in kaum etwas nachstanden.
Das Pferd war damals aus Landwirtschaft, Militär und Transportwesen nicht wegzudenken. Jedoch verbrauchten viele Pferde auch viele Getreideressourcen. Besonders in den städtischen Gebieten war es kaum möglich, die Pferde mit ausreichend Raufutter zu versorgen. Die Arbeit war hart und der Energieverbrauch der Pferde entsprechend hoch. Dieser ließ sich mengenmäßig und logistisch nur über große Mengen an Kraftfutter decken.
Dr. Erwin Becker erkannte, dass Pferde mit einem behandelten Gebiss eine verbesserte Futterverwertung aufwiesen. Durch die bessere Kaufunktion kamen die behandelten Pferde mit 10 bis 20% weniger Futter aus.
Besonders vor dem Hintergrund der Ernährung der Bevölkerung in Kriegszeiten, war diese Erkenntnis wichtig. Allerdings kamen vor allem die Pferde des Militärs in den „Genuss“ einer Zahnbehandlung, da auch hier die Menge der zu beschaffenden Futtervorräte eine große Rolle spielte.
Durch diese große Bedeutung der Pferdezahnbehandlung in den 40er Jahren, wurden die Behandlungsmethoden und Werkzeuge immer weiter verbessert. Kleine maschinell angetriebene Schleifaufsätze, angepasst an die Backen- und auch Schneidezahnbehandlung wurden entwickelt.
Im Video lässt sich sogar eine Wasserkühlung der Schleifaufsätze erkennen. Auch die Idee der mobilen Pferdedentalpraxis war bereits geboren (im Video etwa ab 24:30).
Einzig die Sedierungsmöglichkeiten waren damals noch sehr eingeschränkt bzw. noch nicht vorhanden, so dass die Behandlung nur im Zwangsstand vorgenommen werden konnte. In diesem Bereich hat sich zum Glück einiges getan. Mit dem Ende des Krieges und der fortschreitenden Industrialisierung ist der Pferdebestand in Deutschland stark eingebrochen. Für den Transport und die Fortbewegung gab es flächendeckend Autos oder LKWs und die Ackerpferde wurden nach und nach durch Traktoren ersetzt. Wer zu arm war, sich ein solches Gefährt zu leisten und noch auf das altmodische Pferd setzen musste, hatte auch kein Geld für Zahnbehandlungen.
So verschwand das Wissen um die Pferdezahnmedizin für einige Jahrzehnte vollständig von der Bildfläche. Hatte ein Pferd Probleme mit dem Fressen, raspelten wahlweise Schmied, Landtierarzt oder auch der Besitzer ein wenig mit der Handraspel an den Zähnen herum. Wurde das Problem dadurch nicht gelöst, blieb in der Regel nur der Weg zum Schlachter oder Abdecker.
Erst in den letzten 20 Jahren ist die Bedeutung der Pferdezahnbehandlungen wieder in den Fokus von Pferdebesitzern und Tierärzten gelangt. Werkzeuge, die es so schon einmal vor knapp 70 Jahren gegeben hatte, wurden neu entwickelt. Auch die Forschung begann sich ganz langsam wieder mit der Materie zu beschäftigen.
Heute ist die Notwendigkeit der regelmäßigen Zahnkontrollen zum Glück wieder im Bewusstsein der meisten Pferdebesitzer angekommen. Wenn auch diesmal in der Regel nicht aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten, sondern aufgrund der Fürsorgepflicht für die Gesundheit unserer Freizeit- oder auch Sportpartner.